Europa vor Zerreißprobe – Mitlöhner interviewt Clark

Ein erstaunliches KURIER-Interview, in dem der britische und TV-bekannte Starhistoriker Christopher Clark (Foto (c) by FotoFischer) wirklich brillant zu allen gegenwärtigen Probleme und Krisen der Welt Stellung nimmt und – was die Lobby der Mitte freut – auch Wertschätzendes zur Mitte der Gesellschaft zu sagen weiß. Rudolf Mitlöhner  (KURIER-Redakteur, Foto (c) by FotoFischer) legt mit seinen präzisen, sachkundige Fragen die Basis für dieses gelungene Interview

„Europa vor Zerreißprobe“
„von der Mitte aus müssen wir die Zukunft gestalten“

Rudolf Mitlöhner (Foto links (c) by FotoFischer) vom KURIER interviewt Starhistoriker Christopher Clark (Foto rechts (c) by FotoFischer)

KURIER: Ihr Buch „Die Schlafwandler“ (erschienen 2012; Anm.) über die Entwicklungen, die zum Ersten Weltkrieg führten, wird immer wieder in Bezug zur Gegenwart gesetzt. Inwieweit sind solche Analogien sinnvoll?

Christopher Clark: Das ist eine wichtige Frage. Denn ich finde, die Analogie passt nicht ganz. Die Annexion der Krim 2014 bzw. der Überfall Russlands auf die Ukraine 2022 lassen sich nicht mit 1914 vergleichen. 1914 gab es keinen klaren Friedensbruch durch einen Staat. Deswegen debattiert man ja heute noch über die Ursachen des Ersten Weltkriegs – weil es eben so komplex war. Jetzt aber haben wir einen klaren Aggressor, der den Konflikt ständig eskaliert. Die Männer um Putin haben ganz klar gesagt, worum es geht: nicht nur um die Ukraine, sondern sie führen einen Krieg gegen Europa. „Es geht darum, das moralische Genick Europas zu brechen“, so hat es Sergei Karaganow (Berater Putins; Anm.) wörtlich gesagt. Das ist eine ganz andere Situation als 1914. Der Westen hat nicht sofort reagiert, man hat lange gewartet – eher zu lange.

KURIER: Wer sind dann heute die „Schlafwandler“?

Christopher Clark: Das sind jene, die meinen, das ist ein Bürgerkrieg, da haben wir nichts damit zu tun; oder: wenn das gelöst ist, wird Putin Ruhe geben; oder: Verteidigungsmaßnahmen und Aufrüstung sind Kriegstreiberei.

KURIER: Wenn es ein Krieg Russlands gegen Europa ist: Gehört Russland nicht auch zu Europa?

Christopher Clark: Absolut. Und es stimmt, dass der Westen nicht immer gut mit der Situation nach 1990 umgegangen ist. Russland lag politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich am Boden. Der Westen gab sich einem Siegesrausch hin und meinte, die sind erledigt. Das war ein Fehler, der immer wieder in der Geschichte begangen wurde: nach dem Krimkrieg (1853–1856; Anm.), nach dem Russisch-Japanischen Krieg (1904/05; Anm.) – trotz Niederlagen sind die Russen immer zurückgekommen.

Da haben die „Russlandversteher“ also einen Punkt …?

Ja, durchaus. Man hat auch nach 1990 nicht genug darüber nachgedacht, wie eine Zukunft mit Russland aussehen könnte. Das ist ein Teil der Problematik. Ich habe unlängst die Memoiren von Angela Merkel gelesen. Man hat ihr vorgeworfen, zu „putinversteherisch“ zu sein. Aber was sie gestört hat, war, wenn manche so getan haben, als könnte man Russland von der Landkarte tilgen. Vor allem osteuropäische Staaten haben davon geträumt, dass sie mit Russland nichts mehr zu tun haben würden. Das war ein Hirngespinst. Russland wird immer da sein. Es muss eine Zukunft geben, in der auch die Russen ihren Platz haben und atmen können.

Stimmen Sie jenen zu, die warnen: Wenn Putin jetzt die Ukraine kriegt, dann kommen das Baltikum und Polen als nächstes an die Reihe?

Das Baltikum auf jeden Fall. Es gibt auch viele Drohgebärden gegenüber Polen, aber ob Russland das wagen würde, weiß ich nicht. Ich würde auch an den Balkan denken: Serbien, Kosovo. Da könnte Russland Druck aufbauen und zu destabilisieren versuchen.

Wobei das ja nicht Teil des Warschauer Pakts war. Und Serbien sich ja auch um eine Annäherung an den Westen bemüht …

Ja, aber Russland versucht natürlich, diese Annäherung zu unterbinden und die antiwestlichen Kräfte zu stärken. Putins gesamte Politik basiert auf einem Hass auf den Westen, insbesondere auf Europa. Aber Putin ist nicht Russland. Putin hält sich selbst für Russland und sieht sich in einer Reihe mit Peter dem Großen und sämtlichen bedeutenden russischen Herrschern. Wie das russische Volk zu Putin steht, wissen wir nicht. Es heißt immer wieder, das Volk steht hinter ihm, aber in Wahrheit wissen wir das nicht. Es gibt sicherlich viele Russen, die von einem anderen Russland träumen.

In der Verachtung Europas sind sich Putin und Trump weitgehend einig. Was bedeutet das für den Westen – oder ist der ohnedies nur mehr eine Fiktion?

Der „Westen“ ist ein problematischer Begriff, weil der Westen nie einheitlich gehandelt hat. Aber ungeachtet dessen: diese Annäherung bedeutet nichts Gutes! Durch den amerikanischen Sicherheitsschirm konnten die Europäer ihre Sicherheit wahren, ohne solidarisch handeln zu müssen. Das war allerdings auch von den USA so gewollt: Sie haben Europa als verfügbare Masse betrachtet. Es ist schwierig für Europa, diese über Jahrzehnte erlernte Inkompetenz, Verantwortungslosigkeit und Passivität nun plötzlich abzustreifen.

Da hat also Trump mit seiner Kritik nicht Unrecht …?

Es geht nicht darum, ob Trump Recht hat. Nur hat es keinen Sinn, auf die europäischen Führer zu schimpfen und ihnen mitzuteilen, was sie für Faulenzer und Parasiten seien. Geschichte ist nicht so simpel – wir sind alle dort, wo uns die Geschichte hingebracht hat. Natürlich bin ich dafür, dass Europa als handelnder Akteur auf die Weltbühne tritt. Aber es ist doch verständlich, dass es Zeit braucht, die innere Bereitschaft und die notwendigen Instrumente dafür zu entwickeln. Im Falle Deutschlands mit seiner historischen Sonderrolle ist das noch einmal besser zu verstehen: dass man mit Aufrüstung und starken Gesten gegenüber Russland zurückhaltend ist.

Wobei es ja nicht nur um Deutschland geht …

Nein, auch Österreich ist ein interessanter Fall mit seiner Neutralität: Was soll aus ihr werden? Die Verpflichtung zur EU als Wertegemeinschaft ist ebenso wie die Neutralität verfassungsmäßig festgelegt. Das in Einklang zu bringen, ist nicht einfach.

Zu Donald Trump gibt es unterschiedliche Lesarten: Die einen halten ihn für brandgefährlich, die anderen meinen, es würde nicht so heiß gegessen wie gekocht – und verweisen auf seine Unberechenbarkeit, die vielleicht sogar ihr Gutes habe, weil sie alle in Schach hält …

Da sind wir bei der vielzitierten „Disruption“: Wo Bruchlinien sind, kann Neues wachsen. Europa steht vor einer Zerreißprobe. Ich hoffe, Europa sieht das und versteht es, die Situation ins Gute zu wenden. Ich habe bezüglich Trump früher zur zweiten Sichtweise geneigt, dass nicht so heiß gegessen wie gekocht wird. Aber Trump II ist nicht Trump I. Das ist jetzt alles viel systematischer, er ist umgeben von ideologisch motivierten Gestalten aus rechten Netzwerken. Da braut sich etwas zusammen, und wir sind noch nicht in der Lage, zu sagen, wo das hinführt.

Worin besteht die Gefahr von Trump II?

Sie haben jetzt schon Beachtliches geleistet: indem sie Teile des Verfassungsgefüges einfach per Dekret ausgeschaltet haben – etwa das Gesetz für Unternehmenstransparenz. Da wird ein Weg in eine neue Richtung beschritten. Es werden die Komponenten der amerikanischen Verfassung entschärft, die das System vor Korruption und Amtsmissbrauch schützen.

Hatte nicht auch J. D. Vance im Kern mit seiner Kritik an überzogenem Wokeismus, an cancel culture und dergleichen mehr Recht?

Der Kampf gegen den sogenannten Wokeismus dient als Vorwand für einen großangelegten Angriff auf die Normen der liberalen Demokratie. Beim Kulturkampf dieser Art leidet die Mitte immer am meisten. Die Extreme ähneln sich eher. Zwischen dem woken Puritanismus und den dystopischen rechten Fantasien der Gegenseite gibt es aber diese Mitte. Da gibt es Platz genug – von dort aus müssen wir die Zukunft gestalten.

Aber diesen Platz haben die traditionellen Volksparteien der Mitte vielfach verspielt, oder?

Das ist ein Teil des Problems: dass die großen linken Volksparteien den Draht zu den breiten Massen verloren haben.

… auch die Christdemokraten …

Richtig, aber ich denke jetzt primär an die sozialdemokratischen Bewegungen weltweit, die zu wenig Energie in soziale Gerechtigkeit und Ähnliches investiert haben. Insbesondere die Identitätspolitik der amerikanischen Linken, wo es vorwiegend um Fragen der sexuellen und ethnischen Identität ging, hat in die Sackgasse geführt. Schaut man sich die Vermögensverteilung der US-amerikanischen Bevölkerung an, so sieht man, dass die unteren 50 Prozent immer noch dort sind, wo sie in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts waren; die nächsten 40 Prozent sind hochgekommen und stehen viel besser da. Und diese Ersteren, die 50 Prozent, sind jene, die sagen: Schluss mit dem progressiven Gedöns, davon haben wir nichts gehabt, und die setzen dann auf Leute wie Trump.

Allerdings sind auch die Armen von früher heute besser dran als in früheren Zeiten …

Ja, wie Adam Smith schon gesagt hat: Die Armut ist relativ.

Eben.

Relativ geht es ihnen eben nicht besser.

Noch einmal zurück zur Ukraine: Welche Perspektive für ein Kriegsende sehen Sie?

Das ist eine sehr heikle Frage. Denn sie ist nicht von uns zu beantworten, sondern von jenen, die im Krieg stehen: von der russischen Führung, die offensichtlich das Ziel hat, die Ukraine zu vernichten. Und der Ukraine, die einen schrecklichen Preis in diesem Krieg für ihre Verteidigung zahlt. Ihr vor allem steht es zu, Konzessionen anzubieten bzw. zu sagen, was sie bereit wären zu geben für den Frieden. Rechtlich gesehen müssen sie nichts geben – rechtlich gesehen müsste man die Ukraine in den Grenzen von 1994 wiederherstellen.

Aber das glaubt niemand …

Richtig. Wenn die Weltgeschichte ein Richter wäre, dann würde sie sagen: Die Krim kann bleiben, wo sie jetzt ist; über die Ostgebiete müsste man im Detail verhandeln. Aber es muss – das ist unabdingbar – ein freies, selbstbestimmtes Leben für den Rest der Ukraine geben. Man darf ihnen nicht den Beitritt zur NATO oder zur EU verbieten, denn ein Land, das seine Freunde nicht wählen kann, verdient die Bezeichnung „Staat“ nicht. Wenn Selenskij den Erfolg des Kampfes nicht an Quadratkilometern messen würde, sondern am Gedeihen eines ukrainischen Staates, dann wäre ich sehr froh. Aber das ist nicht meine Entscheidung.

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