Strategie braucht Kreativität

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Strategie braucht Kreativität

Für alle Unternehmer, die nicht nur bisherige Strategien gut umsetzen, sondern auch dabei sind gerade jetzt und selbst neue Strategien zu entwickeln bringt Lobby der Mitte diesen brillanten aber auch extrem Praxis-orientierten, von Xing vermittelten, im Harvard Business Manager veröffentlichten Artikel „Strategie braucht Kreativität“ (© HBP 2019von Professor Adam Brandenburger von der NYU-Stern School of Business, auch Professor an der Tandon School of Engineering.

Am besten hat mir gefallen, wie Brandenburger aus „GEGENSÄTZEN“ und „VERKNÜPFUNGEN“ die Entwicklung neuer Strategien ableitet. Und ja, manche Unternehmer machen das „intuitiv“ – aber ein bisserl Systematik ist schon sehr sehr hilfreich … NICHT IM BÜRO LESEN, sondern in einer ruhigen Stunde am Abend oder Wochenende! 

Strategie braucht Kreativität


Mithilfe etablierter Analysetools allein lässt sich ein Unternehmen nicht neu erfinden. Dazu benötigen Sie vielmehr Ansätze, die das Denken abseits der bekannten Pfade fördern.

Eine Anleitung von Adam Brandenburger 

Strategievorlesungen an Business Schools sind für die Studierenden immer wieder frustrierend – dessen bin ich mir bewusst. Das liegt daran, dass wir ihnen oft nicht das beibringen, was sie gern lernen würden. Die meisten Strategieprofessoren (mich eingeschlossen) empfehlen bei strategischen Fragestellungen den Einsatz strukturierter Analysetools – vom Fünf-Kräfte-Modell über das Skizzieren eines Wertnetzes bis hin zur grafischen Darstellung der strategischen Positionierung im Wettbewerbsumfeld. Weil die Studenten wissen, dass diese Tools wichtig sind, lernen sie, pflichtbewusst damit umzugehen. Aber sie erkennen auch, dass sich diese Ansätze besser zur Analyse eines bestehenden Geschäfts eignen – und längst nicht so gut dafür, Ideen für Veränderungen zu entwickeln. Die Studenten wissen, dass bahnbrechende Strategien durch kreatives Denken entstehen – durch einen Geistesblitz, die Verbindung unterschiedlicher Denkansätze, einen Sprung ins Ungewisse.

Damit liegen sie richtig. Aber das heißt nicht, dass die vielen sinnvollen Analysemodelle, die wir über die Jahre entwickelt haben, ausgedient hätten. Wir brauchen diese Methoden weiterhin, um Wettbewerbskonstellationen zu verstehen. Oder um zu ermitteln, wie Unternehmen ihre Ressourcen und Kompetenzen im jeweiligen Umfeld am besten einsetzen können. Wir, die von Berufs wegen über Strategie nachdenken, müssen jedoch erkennen, dass diese Ansätze niemandem helfen, konventionelle Denkweisen zu durchbrechen. Wenn wir Studenten und Führungskräften beibringen wollen, wegweisende Strategien zu entwickeln, müssen wir ihnen Werkzeuge an die Hand geben, die explizit darauf ausgelegt sind, Kreativität zu fördern.

Eine Reihe solcher Ansätze gibt es bereits, oft in praxisfreundlicher Form. Giovanni Gavetti und Jan W. Rivkin schildern in ihrem im Juli 2005 im Harvard Business Manager erschienenen Artikel „Analogien nutzen – aber richtig“ eindrücklich, wie sich Analogien für die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle verwenden lassen. Charles Duhigg spricht in seinem Buch „Smarter Schneller Besser“ davon, kreative „Störungen“ in die Arbeitsprozesse einzubringen, um neue Denkweisen zu fördern. Und Youngme Moon schlägt in dem HBM-Artikel „Ausbruch aus dem Lebenszyklus“ (August 2005) vor, Produkte durch mutiges Begrenzen – statt Erweitern – der Funktionen neu zu definieren.

All diese Ansätze zielen darauf ab, mit der Strategiearbeit über die analytisch erreichbaren (naheliegenden) Erkenntnisse hinauszugehen und in weiter entfernt liegendes Territorium vorzudringen. Oder, um es etwas wissenschaftlicher auszudrücken, eine größere kognitive Distanz zu erreichen. Sie bauen eher auf der Funktionsweise unserer gedanklichen Prozesse auf als auf der Struktur von Branchen oder Geschäftsmodellen. Deshalb können sie Strategen helfen, ihre Kreativität auf Bereiche zu konzentrieren, die jenseits des Bestehenden liegen und so wirklich neue geschäftliche Ansätze zu entwickeln. Einfach abzuwarten und auf einen Geistesblitz zu hoffen ist eindeutig nicht empfehlenswert.

In diesem Beitrag stelle ich vier Ansätze zur Entwicklung von bahnbrechenden Strategien vor:

1. Gegensätze. Strategen sollten die Annahmen ermitteln, auf denen der Status quo des Unternehmens oder der Branche basiert – und sie infrage stellen. Dies ist der direkteste und oft auch der sicherste Weg, ein Geschäft neu zu erfinden.

2. Verknüpfungen. Steve Jobs hat den berühmten Ausspruch geprägt, Kreativität bestehe einfach nur darin, „Dinge miteinander zu verbinden“. Viele intelligente Geschäftsmodelle basieren darauf, scheinbar nicht miteinander zusammenhängende oder gar widersprüchliche Produkte oder Dienstleistungen zu verknüpfen.

3. Beschränkungen. Ein guter Stratege schaut sich die Grenzen in seiner Organisation an und überlegt, wie sie sich in Stärken verwandeln lassen.

4. Kontext. Darüber nachzudenken, wie ein vergleichbares Problem in einem anderen Kontext gelöst wurde, kann erstaunliche Erkenntnisse zutage fördern.

In dem Artikel „Where Do Great Strategies Really Come from?“, der im Dezember 2017 in „Strategy Science“ veröffentlicht wurde, gehe ich auf diese Ideen stärker aus einem wissenschaftlichen Blickwinkel ein. Die skizzierten Ansätze sind nicht erschöpfend und nicht vollkommen trennscharf – aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass sie dazu beitragen, ein breites Spektrum von Möglichkeiten zu eröffnen.

Gegensätze

Welche der bisherigen Annahmen warten nur darauf, widerlegt zu werden?

Der erste Schritt auf dem Weg zu einer Strategie, die auf dem Prinzip der Gegensätze beruht, besteht darin, die Grundannahmen der bislang existierenden Strategien zu identifizieren. Elon Musk scheint ein Händchen für diese Methode zu haben. Er und die anderen Gründer von Paypal widerlegten die weitverbreitete, aber nicht bewiesene Annahme, dass Zahlungsverkehr nur zwischen Institutionen möglich und sicher ist – nicht jedoch zwischen Privatpersonen. Mit SpaceX will er gleich mehrere grundlegende Annahmen zur Raumfahrt infrage stellen: dass Weltraumflüge nur nach einem festgelegten Zeitplan möglich sind, von der Öffentlichkeit bezahlt werden müssen und dass Raketen nur ein einziges Mal verwendet werden können. Vielleicht ist Musk tatsächlich auf dem richtigen Kurs, einen privat finanzierten Charter-Raumfahrtanbieter mit wiederverwendbaren Raketen zu etablieren.

Entscheidend ist, die Annahmen präzise zu benennen, am besten sogar wörtlich. Warum das von Bedeutung ist, zeigt die Branche der Videoverleiher. Im Jahr 2000 dominierte Blockbuster den Videothekensektor. Die zugrunde liegenden Annahmen schienen dabei auf der Hand zu liegen: Die Menschen besorgen sich ihre Videos in einem Laden in der Nähe ihres Wohnorts. Der Filmbestand muss begrenzt sein, weil neue Videos teuer sind. Da die Nachfrage nach neuen Titeln hoch ist, müssen Kunden Strafgebühren zahlen, wenn sie ausgeliehene Filme zu spät zurückgeben. Im Grunde entsprach dies dem Modell von öffentlichen Bücherhallen. Dann kam Netflix und analysierte die Basisannahmen sehr genau. Warum braucht es eigentlich stationäre Läden? Videos per Post zu versenden wäre doch billiger und bequemer. Gibt es eine Möglichkeit, die hohen Kosten für neue Filme zu umgehen? Wenn die Studios mit einer Umsatzbeteiligung einverstanden wären, würden beide Seiten profitieren. Dank dieser beiden Veränderungen konnte Netflix deutlich mehr Filme vorhalten als herkömmliche Videotheken, Ausleihzeiträume verlängern und Verspätungsgebühren abschaffen. Kurz: die gesamte Branche umkrempeln.

Meistens wirken Strategien, deren Basis das Infragestellen vorherrschender Annahmen ist, weniger revolutionär als Netflix, das sich später als Streamingdienst und Produzent eigener Inhalte noch einmal neu erfand. Sie sind auch weniger revolutionär als das Raumfahrtunternehmen SpaceX, sollte es denn Erfolg haben. Aber jedes Unternehmen kann sich beispielsweise fragen, ob es sinnvoll sein könnte, die Reihenfolge seiner Prozesse umzudrehen. Im stationären Handel sieht das traditionelle Modell so aus, dass zuerst ein Flagshipstore an den Start geht (in der Regel in einer Innenstadtlage) und später Filialen (in Vororten) hinzukommen. Bei Pop-up-Stores ist das nicht immer so. Manchmal flankieren sie als eine Art Minisatelliten ein etabliertes Hauptgeschäft. In anderen Fällen machen die Pop-up-Stores den Anfang. Und erst falls sie sich bewähren, kommen Filialen hinzu. Der Manhattaner Stadtteil SoHo ist zu einem regelrechten Testgelände für diese Strategie geworden.

Eine andere Möglichkeit besteht darin, die Rollen in der Wertschöpfungskette neu zu verteilen. In den meisten Branchen ist von jeher klar geregelt, welches der Glieder Anbieter und welches Kunde ist. Diese Rollenverteilung umzukehren kann neue Geschäftsmodelle ermöglichen. Im gemeinnützigen Bereich gelten Spender in der Regel als Anbieter von finanziellen Mitteln. DonorsChoose.org ist hingegen ein Modell, das die Spender eher wie Kunden behandelt. Die Organisation stellt dabei eine Reihe von Spendenaufrufen in ihr „Schaufenster“. Sie kommen von Lehrern aus dem gesamten Land, die für ihre oft schlecht ausgestatteten Schulen Lehrmaterial anschaffen wollen. Die Spender können auswählen, welchen Aufruf sie unterstützen möchten. Später erhalten sie Fotos der Schulaktivitäten, die mit ihrem Geld finanziert wurden. Letztlich kaufen sie sich durch ihre Spende das gute Gefühl, etwas bewirkt zu haben – als Beleg dafür dienen ihnen die Vorher-nachher-Fotos.

In manchen Branchen gibt der Status quo stark gebündelte, teure Produkte oder Leistungen vor. Diese Pakete aufzuschnüren ist eine weitere Variante einer Gegensatzstrategie. Möglicherweise sind die verschiedenen Kundengruppen daran interessiert, die unterschiedlichen Bestandteile eines Produkt- oder Leistungspakets günstiger einzukaufen. Dieser Ansatz und das Internet haben den Herausforderern dabei geholfen, eine Branche nach der anderen durcheinanderzuwirbeln. Die besten Beispiele dafür sind die Bereiche Musik, Fernsehen und Bildung. Die etablierten Unternehmen müssen sich grundlegend verändern, um den neuen Wettbewerbern, die die gewohnten Angebotspakete aufschnüren, Paroli zu bieten. Nicht zuletzt das macht diesen Ansatz besonders aussichtsreich.

Erste Schritte

1. Identifizieren Sie genau, welche Annahmen dem konventionellen Denkansatz im Unternehmen oder in der Branche zugrunde liegen.

2. Überlegen Sie, welche Vorteile es haben könnte, eine oder mehrere dieser Annahmen zu widerlegen.

3. Verändern Sie gezielt einen Aspekt der gewohnten Arbeitsabläufe, um tief verwurzelte Überzeugungen aufzubrechen.

Fallstricke

Da die zugrunde liegenden Annahmen, auf denen ein Geschäftsmodell basiert, in allen Prozessen stecken – und weil Kalkulierbarkeit eine Voraussetzung für stabile Unternehmen ist –, wird es nicht einfach sein, den Kurs zu ändern. Organisationen sind sehr gut darin, sich Veränderungen zu widersetzen.

Verknüpfungen

Wie lassen sich traditionell getrennte Produkte oder Leistungen miteinander verbinden?

Verknüpfung ist sowohl in den Geisteswissenschaften als auch in den Naturwissenschaften ein klassischer Kreativitätsansatz. David Eagleman und Anthony Brandt weisen in ihrem Buch „Kreativität: Wie unser Denken die Welt immer wieder neu erschafft“ darauf hin, dass Albert Einstein erst durch die Verknüpfung zweier völlig unterschiedlicher Ideen – einer Fahrt mit dem Aufzug und einer Reise in den Weltraum – auf seine allgemeine Relativitätstheorie kam. Auch in der Wirtschaft können kreative und erfolgreiche Ideen aus der Verbindung von eigentlich getrennten Sachverhalten entstehen. Oft bieten sich komplementäre Produkte und Leistungen dafür an. Produkte und Zahlungssysteme waren beispielsweise traditionell getrennte Stufen innerhalb der Wertschöpfungskette. Die chinesische Social-Media-Plattform WeChat, die zum Internetunternehmen Tencent gehört, bietet jedoch inzwischen einen integrierten Dienst für mobile Zahlungen namens WeChat Pay an. Er ermöglicht es den Nutzern, Produkte direkt in ihren sozialen Netzwerken zu kaufen und zu verkaufen. Die chinesischen Internetkonzerne Tencent und Alibaba expandieren auch jenseits des chinesischen Ökosystems: Damit Einzelhändler in anderen Ländern ihre mobilen Zahlungsdienstleistungen akzeptieren, schließen sie entsprechende Vereinbarungen mit Zahlungsdienstleistern ab.

Es kann manchmal auch durchaus sinnvoll sein, wenn sich Wettbewerber mit dem Ziel zusammenschließen, das Geschäftspotenzial zu vergrößern. (Barry Nalebuff und ich haben diese Idee in dem 1996 erschienenen Buch „Co-opetition“ erörtert.) BMW und Daimler haben Pläne angekündigt, ihre Mobilitätsdienstleistungen zusammenzulegen: Carsharing, Ride Hailing, Parken, Aufladen von Elektroautos und auch das Verkaufen von Tickets für öffentliche Verkehrsmittel. Die beiden Automobilhersteller hoffen vermutlich, dass es ihnen mit dieser Initiative gelingt, Uber und andere digitale Angreifer auf Distanz zu halten, die sich im traditionellen Automobilmarkt breitmachen wollen.

In anderen Fällen schaffen Unternehmen aus völlig unterschiedlichen Branchen durch gemeinsame Angebote einen Mehrwert für die Kunden. Apple und Nike tun dies, seit sie 2006 den Nike iPod Sport Kit auf den Markt gebracht haben. Damit konnten Sportschuhe von Nike die Schrittzahl erfassen und direkt an den iPod senden. Inzwischen gibt es die Apple Watch auf Wunsch mit vorinstallierter Nike Run Club App. Nest Labs und Amazon ergänzen sich ebenfalls prima: Der intelligente Thermostat von Nest gewinnt an Wert, wenn die Kunden ihn per Sprachbefehl über Amazons virtuelle Assistentin Alexa steuern können.

Neue Technologien bieten reichlich Verknüpfungsmöglichkeiten. Künstliche Intelligenz und Blockchain ergänzen sich, um die vielen persönlichen Daten zu schützen, die für die Entwicklung von Algorithmen erforderlich sind. Etwa im Gesundheitssektor und in anderen sensiblen Branchen. Das Zusammenspiel von Blockchain und dem Internet der Dinge hingegen schützt Sensordaten in dezentralen Anwendungen. Dazu gehören beispielsweise Lieferketten der Lebensmittelindustrie, Transportsysteme und Smart Homes, die über intelligente Verträge auch automatisierte Versicherungsleistungen bieten.

Die vielleicht weitreichendste Verknüpfung entsteht aber zwischen Mensch und Maschine. Manche Kommentatoren sind der Meinung, diese Beziehung werde in Zukunft eher von Wettbewerb als von Kooperation geprägt sein. Und sie glauben, dass die Menschen in vielen Wirtschaftsbereichen den Kürzeren ziehen werden. Andere sehen die Zukunft positiver. Sie gehen davon aus, dass die Maschinen einfachere kognitive Aufgaben erledigen und die Menschen dadurch mehr Raum für kreative Tätigkeiten erhalten. Dazu gehören die Experten der Boston Consulting Group, Martin Reeves und Daichi Ueda. Sie beschreiben Algorithmen, die fortlaufend kleinere Anpassungen am Geschäftsmodell eines Unternehmens vornehmen, damit die Menschen sich mit den übergeordneten Zielen beschäftigen und langfristig planen können. („Designing the Machines That Will Design Strategy“, HBR.org, April 2016)

Beim strategischen Mittel der Verknüpfung geht es darum, über traditionelle Grenzen hinweg Verbindungen herzustellen – zwischen einem Produkt und einer Dienstleistung, zwischen zwei Technologien, Upstream- und Downstream-Aktivitäten oder einfach unterschiedlichen Bestandteilen. Auch hier müssen kreative Strategen den Status quo hinterfragen, diesmal aber nicht nur innerhalb eines Gebiets, sondern über zwei oder mehrere Bereiche hinweg.

Erste Schritte

1.  Bilden Sie Gruppen, deren Mitglieder über unterschiedliche Kompetenzen und Erfahrungen verfügen. Überlegen Sie, welche bisher getrennten Produkte oder Leistungen sich verbinden lassen.

2.  Suchen Sie nach Möglichkeiten, sich mit Anbietern komplementärer Produkte abzustimmen. Dabei kann es sich übrigens auch um Wettbewerber handeln.

Fallstricke

Unternehmen managen und erfassen Gewinne oft auf der Ebene einzelner Produkte oder Aktivitäten. Verknüpfungen erfordern aber Denkansätze und Kennzahlen auf Systemebene.

Beschränkungen

Wie lassen sich die Einschränkungen im Unternehmen in Chancen verwandeln?

„Frankenstein“, die erste Science-Fiction-Geschichte der Welt, entstand während eines ungewöhnlich kalten und stürmischen Sommers in der Nähe des Genfer Sees. Es war so ungemütlich, dass die Schriftstellerin Mary Wollstonecraft Shelley nicht vor die Tür gehen konnte. So blieb ihr nicht viel anderes, als ihre Fantasie spielen zu lassen. Künstler kennen sich aus mit Beschränkungen. Angefangen mit dramatischen wie Schicksalsschlägen bis hin zu strukturellen wie der Vorgabe, ein Gedicht in 14 Zeilen und einer bestimmten Reimform zu schreiben. Wie in der Kunst kann kreatives Denken auch in der Wirtschaft Einschränkungen in Chancen verwandeln.

Dass aus Beschränkungen kreative Strategien erwachsen können, mag auf den ersten Blick paradox erscheinen. Wenn eine Grenze wegfällt, bleibt schließlich all das möglich, was vorher auch schon möglich war. Wahrscheinlich ergeben sich dadurch sogar noch mehr Optionen. Das Entscheidende aber ist: In jeder Situation sind mehrere Denkansätze möglich. Und eine Beschränkung lenkt das Denken unter Umständen in eine völlig andere Richtung. Allerdings gilt auch hier das aus dem Märchen stammende Goldlöckchen-Prinzip: Zu viele Beschränkungen ersticken alle Möglichkeiten im Keim, überhaupt keine Beschränkung verursacht jedoch ebenfalls Probleme.

Tesla ist mit reichlich Geld in das Automobilgeschäft gestartet. Allerdings verfügte das Unternehmen nicht über ein Händlernetz, was in der Branche als unverzichtbar gilt. Statt eines aufzubauen, beschloss Tesla, seine Fahrzeuge online zu vertreiben und seine Verkaufsräume nach dem Vorbild der Apple Stores zu gestalten und mit festangestellten Verkäufern zu arbeiten.

Wie sich zeigt, ist das Unternehmen im Wettbewerb mit den traditionellen Herstellern tatsächlich gut aufgestellt. Die Händler der etablierten Autobauer haben nämlich einen Interessenkonflikt, wenn sie Elektroautos stärker bewerben als solche mit Verbrennungsmotoren. Außerdem steuert Tesla seine Preise direkt. Kunden, die Elektroautos bei traditionellen Händlern kaufen, haben es dagegen oft mit großen Preisunterschieden zu tun.

Ich sollte betonen, dass sich diese Sicht auf die Grenzen in Unternehmen grundlegend von der klassischen SWOT-Analyse unterscheidet. Danach sollten Strategen Stärken, Schwächen, Chancen und Bedrohungen einer Organisation ermitteln. Und dann überlegen, wie sich die Stärken und Chancen nutzen und die Schwächen und Bedrohungen minimieren lassen.

Bei einem auf Beschränkungen basierenden Ansatz suchen Strategen hingegen nach Möglichkeiten, aus Schwächen des Unternehmens Vorteile zu machen. Beschränkungen gepaart mit Einfallsreichtum können Chancen auftun.

Dieser Ansatz stellt die SWOT-Analyse auch auf andere Weise auf den Kopf. Denn ebenso wie sich aus einer vermeintlichen Schwäche eine Stärke machen lässt, kann sich eine scheinbare Stärke als Schwäche erweisen. Diese Gefahr wächst häufig mit der Zeit: Nämlich dann, wenn die einstigen Erfolgsfaktoren eines Unternehmens zur Belastung werden, weil sich das Umfeld verändert hat. Für große Einzelhandelsunternehmen beispielsweise, bestand das Ziel immer darin, möglichst viele Produkte zu verkaufen. Dafür brauchten sie ein möglichst großes Filialnetz mit einem entsprechenden Warenbestand vor Ort. Zu den vielen Veränderungen, mit denen sie heute konfrontiert sind, gehört die zunehmende Verbreitung von sogenannten Guideshops. Sie wurden unter diesem Namen ursprünglich vom amerikanischen Herrenbekleidungshändler Bonobos eingeführt. Dahinter verbergen sich Läden, in denen Kunden Artikel anprobieren, die sie sich dann nach Hause liefern lassen oder später online bestellen. In einem solchen Umfeld sind herkömmliche Filialnetze eher Belastung als Trumpf.

Eine weitere Spielart dieses Strategieansatzes sind selbst auferlegte Beschränkungen. Künstler arbeiten damit, wenn sie sich dafür entscheiden, nur im Rahmen eines bestimmten Mediums zu bleiben. Das Zweisternerestaurant „Noma“ in Kopenhagen hält sich an das Manifest der neuen nordischen Küche. Deren Grundprinzipien sind Reinheit, Einfachheit, Schönheit, Saisonalität, lokale Tradition und Innovation. Inzwischen arbeiten Tausende Restaurants weltweit nur noch mit lokalen Produkten. Für Unternehmen, die den Wandel in ihrer Branche oder ihrem Bereich anführen wollen, kann die Selbstverpflichtung zu hohen Umweltstandards, fairen Arbeitsbedingungen und einem ethischen Supply-Chain-Management wirksames Mittel sein, um dieses Ziel zu erreichen.

Darüber hinaus können selbst auferlegte Beschränkungen Innovationen fördern. Adam Morgan und Mark Barden beschreiben in ihrem Buch „A Beautiful Constraint“, wie das Motorsportteam von Audi Anfang der 2000er Jahre auf einen Sieg im 24-Stunden-Rennen von Le Mans hinarbeitete: Die Entwickler legten sich auf die Grundannahme fest, dass ihre Autos nicht schneller sein würden als die der Konkurrenz. Damit schied Geschwindigkeit als Wettbewerbsfaktor aus. Audi entwickelte deshalb Dieselrennwagen, die weniger Tankstopps einlegen mussten als Benziner. Danach gewann Audi Le Mans drei Jahre in Folge (2004 – 2006). 2017 definierte Audi eine neue Beschränkung – und ein neues Ziel: die Entwicklung von Elektrorennwagen, die die neue Formel-E gewinnen können.

Erste Schritte

1.  Listen Sie statt Kompetenzen jene Dinge und Bereiche auf, bei denen Ihr Unternehmen an seine Grenzen stößt. Überprüfen Sie, ob sich die Schwachpunkte Ihrer Organisation in Stärken verwandeln lassen.

2.  Erwägen Sie, bestimmte Beschränkungen gezielt vorzugeben. Das kann Mitarbeiter ermutigen, neue Denk- und Handlungsmodelle zu entwickeln.

Fallstricke

Erfolgreiche Unternehmen haben in der Regel kaum mit ernsthaften Beschränkungen zu kämpfen. Deshalb sehen die Mitarbeiter möglicherweise keine Veranlassung, darüber nachzudenken, wie sich durch künstliche Einschränkungen Chancen ergeben können.

Kontext

Wie können andere Branchen, Ideen oder Disziplinen dabei helfen, drängende Probleme zu lösen?

Die Bionik ist ein Forschungsbereich, der in der Natur nach Lösungsansätzen für Fragestellungen aus Maschinenbau, Werkstoffwissenschaft, Medizin und anderen Bereichen sucht. George de Mestral ließ sich in den 40er Jahren von der Klette zu einem alternativen Verschluss für Kleidung inspirieren. Anders als Reißverschlüsse klemmt er nicht – Mestral erfand den Klettverschluss.Dahinter verbirgt sich ein klassischer Problemlösungsansatz: Nehmen Sie ein Problem aus seinem eigentlichen Zusammenhang heraus und suchen Sie einen anderen Kontext mit einem vergleichbaren, aber bereits gelösten Problem. Die Lösung oder ihr Prinzip lässt sich häufig übertragen.

Intel bediente sich dieser Methode, als der Chiphersteller Anfang der 90er Jahre das bekannte „Intel Inside“-Logo entwickelte. Das Unternehmen wollte damit Mikroprozessoren zu einem Markenprodukt machen. Das dahinterstehende Ziel war, Verbraucher zu ermuntern, die nächste Chipgeneration schneller anzunehmen. Zudem wollte Intel seine Chancen verbessern, die PC-Branche weiter voranzutreiben. In anderen Konsumgüterbereichen waren Markenprodukte bereits etabliert – Beispiele sind Teflon oder NutraSweet. Im IT-Sektor war das jedoch noch nicht der Fall. Intel übertrug den Ansatz mit einer neuen Werbekampagne auf die Hightechindustrie und machte aus einer zuvor wenig beachteten Computerkomponente ein Markenprodukt.

Dabei kann der Vergleichskontext aus einer anderen Branche kommen – so wie im Fall von Intel. Er kann aber auch aus einer anderen Zeit stammen. Die Entwicklung der grafischen Benutzeroberfläche war eigentlich ein Schritt rückwärts: Damit entfernten sich die Entwickler wieder vom textbasierten Kontext, in dem die Computerprogrammierung entstanden war. Stattdessen wandten sie sich der Hand-Auge-Koordination zu, einem Bereich, der bei der kognitiven Entwicklung von Kindern eine große Rolle spielt. Aktuell sehen sich KI-Forscher an, wie Kinder lernen, um Anregungen für die Prozesse des maschinellen Lernens zu erhalten.

Unternehmen wollen immer gern wissen, was die Zukunft bringt. Deshalb gibt es gleich eine ganze Reihe von Methoden dazu. Dieses Ziel verfolgen auch Lead-User- und Extreme-User-Strategien. Dabei verlagern Unternehmen ihren Fokus von Mainstream-Kunden auf Menschen, die eigene Versionen eines Produkts entwickeln oder Produkte auf ungewöhnliche Weise und unter besonderen Bedingungen nutzen. Die Idee dahinter ist, dass die heutigen Grenzen des Markts Hinweise darauf geben, in welcher Richtung sich der Mainstream morgen befinden wird. Extremsportarten wie Mountainbiking, Skateboarding, Snowboarding und Windsurfen sind gute Beispiele dafür. Sonali Shah von der MIT Sloan School of Management schreibt in einem Arbeitspapier, dass Sportbegeisterte in diesen Bereichen schon seit den 50er Jahren Innovationen vorantrieben. Große Hersteller griffen die Entwicklungen auf, konzipierten kosteneffiziente Produktionsverfahren sowie Marketingkampagnen dafür und machten sie zum Mainstream.

Wenn Unternehmen ihre F&E-Funktionen besonders weit von der Zentrale entfernt ansiedeln, signalisieren sie damit, wie wichtig es ist, fremde Kontexte miteinzubeziehen. Diese Strategie ist nicht nur etwas für Konzerne, die ihre IT-Entwickler ins Silicon Valley oder ihre Fachleute für Biotechnologie in den Großraum Boston entsenden. Auch Start-ups sollten das beste Umfeld für Lernen und Wachstum anstreben.

Der Hardware-Accelerator HAX in Shenzhen beherbergt Hardware-Start-up-Teams aus zahlreichen Ländern und bietet ihnen Zugang zum Hochgeschwindigkeitsökosystem der „Hardware-Hauptstadt der Welt“. Dort können sie die Entwicklungszyklen ihrer Prototypen viermal so schnell absolvieren.

Kontextorientierte Strategiearbeit kann bedeuten, eine Lösung mehr oder weniger unverändert von einem Zusammenhang auf einen anderen zu übertragen. Indem sie sich ein Beispiel an erfolgreichen Pionieren nimmt, kann sie im Umgang mit Problemen völlig neue Perspektiven (oder Chancen) aufzeigen. Letztlich geht es dabei darum, nicht in einer einzigen Betrachtungsweise stecken zu bleiben.

Erste Schritte

1.  Erklären Sie Ihr Geschäft jemandem aus einer anderen Branche. Ein frischer Blick von außen kann helfen, neue Antworten und Möglichkeiten zu finden.

2.  Treten Sie mit Nutzern in Kontakt, die Trends anführen oder zur Gruppe der Extremnutzer gehören. Auch der Kontakt zu Innovationszentren lohnt.

Fallstricke

Unternehmen müssen sich auf interne Prozesse konzentrieren, um ihr aktuelles Wertversprechen halten zu können. Allerdings kann der Druck, sich nach innen zu fokussieren, den Blick nach außen verstellen. So bleiben die Chancen ungenutzt, die Erkenntnisse aus anderen Bereichen und von anderen Akteuren bieten.

Fazit

In der Unternehmensberatung fließen die beiden Aspekte Strategie und Innovation zunehmend zusammen. Die Design- und Innovationsberatung IDEO bietet heute zusätzlich Strategieberatung an, und McKinsey hat seine Strategieexpertise um Design-Thinking-Methoden erweitert. Das wirft natürlich die Frage auf: Müssen wir wirklich über die Rolle von Kreativität in der Strategieentwicklung nachdenken, wenn die Grenzen zwischen Strategie und Innovation mittlerweile verschwimmen?

Die Antwort lautet meiner tiefen Überzeugung nach: Ja. Im Kern geht es in der Strategiearbeit immer noch darum, über Differenzierung einen Mehrwert zu schaffen und zu verteidigen. Das ist eine komplizierte und schwierige Aufgabe. Sie erfordert Methoden, mit denen sich überraschende, kreative Alternativen zu konventionellen Denkansätzen entwickeln lassen. Sie erfordert Tools für die Analyse des Wettbewerbsumfelds sowie der Dynamik, die dieses Umfeld bedroht – und sie erfordert Werkzeuge, mit denen sich die Ressourcen und Kompetenzen eines Unternehmens untersuchen lassen. Wir müssen Studenten an Business Schools und Führungskräften beibringen, kreativ und gleichzeitig analytisch vorzugehen. 

© HBP 2019

Der Autor

Adam Brandenburger ist Professor an der Stern School of Business und Distinguished Professor an der Tandon School of Engineering. Außerdem leitet er das Shanghai-Programm Creativity + Innovation an der New York University.

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