Im Land der vielen Fehlanreize (von Josef Urschitz)

Wenn sich Josef Urschitz, von DIE PRESSE die aus seiner Sicht zwar gut gemeinten aber schlecht gestaltet und umgesetzten Anreize der Regierenden für die Bevölkerung ganz genau ansieht, dann kommt der nicht so genau hinsehende Mensch ins ungläubige Staunen

Im Land der vielen Fehlanreize

Josef Urschitz (Redakteur und Kolumnist Economist DIE PRESSE)

in Wien kommt eine fünfköpfige Familie in der Mindestsicherung inklusive Familientransferleistungen auf ein Jahreseinkommen von 48.000 Euro, hat „Die Presse“ vorige Woche berichtet. Das sind rund 4000 Euro im Monat. Netto. Ein Vollzeit arbeitender Alleinverdiener müsste in derselben Situation 47.000 Euro brutto verdienen, um einschließlich aller Familienleistungen auf das gleiche Nettoeinkommen zu kommen. Das Medianeinkommen für Vollzeitbeschäftigte liegt in Österreich laut Statistik Austria bei rund 51.500 Euro brutto im Jahr. Das heißt, fast die Hälfte der österreichischen Arbeitnehmer verdient weniger als im obigen Fall mittels Sozialhilfe zu erreichen ist.
Jetzt kann man natürlich darüber diskutieren, ob 4000 Euro für eine fünfköpfige Familie für ein angenehmes Leben reichen. Und man kann trefflich darüber streiten, ob jetzt die Sozialhilfe zu hoch oder die Löhne zu niedrig sind. (Wobei Letzteres mit einem Blick auf die Lohnkostentangente österreichischer Unternehmen im internationalen Vergleich eher ausgeschlossen werden kann).
Worüber man aber nicht diskutieren kann, ist das fatale Signal, das mit solchen Relationen ausgesendet wird: Im Niedriglohnbereich bis weit hinauf in die Mitte der Lohnskala lohnt sich die Arbeitsaufnahme rein wirtschaftlich betrachtet nicht. Selbst wenn man davon ausgeht, dass Wenigverdiener mit vielen Kindern bis zum Mindestsicherungstarif aufstocken können, macht es in der Familienkasse keinen Unterschied, ob jemand arbeiten geht oder nicht.
Einer der klassischen Fehlanreize, von denen es in Österreich viel zu viele gibt. Wer meint, dass solche Fehlanreize in der Praxis keine Wirkung zeigen, könnte sich einmal die Frage stellen, wieso fast drei Viertel der Mindestsicherungsbezieher im Bundesland mit der höchsten Geldleistung, nämlich Wien, konzentriert sind. Und danach die zahlreichen „Studien“ noch einmal „einordnen“, die gegen jede empirische Evidenz und gegen jede Vernunft die Existenz von finanziellen Pullfaktoren leugnen.
Vor allem aber könnte sich die Politik langsam ernsthafter mit der Frage befassen, wie man dieses Dilemma löst, ohne jene, die die Sozialhilfe wirklich benötigen, in die Armut zu stoßen. Etwa, indem man die theoretisch ja existierende Verpflichtung, angebotene Arbeit auch anzunehmen, ein bisschen forscher durchsetzt. Wenn in Wien sieben (!) Prozent der Wohnbevölkerung in der Mindestsicherung hängen, während gleichzeitig Arbeitskräftemangel herrscht, dann stimmt nämlich irgendetwas nicht, würde man meinen.
Dann schwindet eben die Motivation, sich weiter anzustrengen

Fehlanreize gibt es aber auch im qualifizierteren Bereich des Arbeitsmarkts nicht zu knapp. Solche setzt beispielsweise die viel zu steile Kurve der Steuerprogression, die Teilzeitarbeit gegenüber Vollzeitbeschäftigung recht attraktiv macht und die Lust von Pensionisten weiterzuarbeiten, ein bisschen sehr dämpft. Wenn eine Reduktion der Arbeitszeit um 50 Prozent zu einer Reduktion des Nettolohns um nicht einmal 40 Prozent führt, ist mehr Lebensqualität bei überschaubaren Einbußen eben eine Überlegung wert. Und wenn ein Pensionist mit, sagen wir, 3000 Euro Bruttopension zusätzlich einen 3000-Euro-Job annimmt und dann sieht, dass sich seine Steuerleistung nicht verdoppelt, sondern verdreifacht, dann schwindet eben die Motivation, sich weiter anzustrengen (und für den Arbeitsteil weiter Pensionsbeiträge zu zahlen). Wenigstens das soll jetzt ein wenig entschärft werden.

Beides – der Hang zur Teilzeit und die zu frühe Verabschiedung aus dem Arbeitsleben – sind zunehmende Probleme nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für die Staatsfinanzierung. Ausgelöst durch klassische, von der Politik verursachte Fehlanreize.
Solche gibt es übrigens auch häufig in Sachen Energiewende. Etwa die unbedingte Abnahmeverpflichtung für Strom aus Solar- und Windkraftanlagen. Das mag in der Anfangszeit als Anschubmaßnahme sinnvoll gewesen sein, ist jetzt aber nur noch kontraproduktiv und teuer. So etwas entsteht, wenn Planwirtschaftler glauben, Wirtschaft spielen zu müssen.
Die Abnahmeverpflichtung von Ökostrom ohne Rücksicht auf den Bedarf ist das klassische Gegenstück zur technischen Logik von Stromnetzen, die die Produktion von Strom dann verlangen, wenn Bedarf besteht. Und nicht dann, wenn gerade die Sonne scheint. Die konstante Leugnung dieser simplen Tatsache führt einerseits zu großen technischen Problemen: Die unkontrollierte Einspeisung von Sonnenstrom bei gleichzeitig viel zu geringer Momentanreserve in Form von Gas- und Kernkraftwerken, deren Turbinen kurzzeitige Frequenz- und Spannungsschwankungen ausbügeln können, hat Spanien vor Kurzem in einen eintägigen Blackout gestürzt.
Und andererseits zu irren Kosten. Deutschland etwa hat im Vorjahr im Rahmen des EEG fast 19 Mrd. Euro für die „Verknappung“ von Überschussstrom zu Negativpreisen ins Ausland, für andere Stabilisierungsmaßnahmen und für jenen Strom, den Windkraftwerke hätten produzieren können, aber wegen der Netzsituation nicht durften (Geisterstrom), ausgeschüttet. Aus dem Budget, in den ohnehin sehr hohen deutschen Stromkosten finden sich diese Ausgaben gar nicht.
Das sind elf Cent pro produzierter Kilowattstunde Sonnen- und Windstrom. Zusätzlich zu den Investitionsförderungen und den Investitionen in Netze und Back-up-Kapazitäten. So viel zum Thema billiger Ökostrom. Hier sind volkswirtschaftlich sehr schädliche Fehlanreize am Werk, um die sich die Politik einmal kümmern sollte. Ein kleiner Tipp: PV-Anlagen kann man auch problemlos vom Netz nehmen, wenn sie gerade nicht gebraucht werden. Es würde schon reichen, mehr auf Techniker und weniger auf Ideologen zu hören.
Gut gemeint ist nicht gut gemacht
Vieles von dem, was hier als klassischer Fehlanreiz daherkommt, ist sicher gut gemeint. Natürlich muss ein moderner Sozialstaat Menschen vor dem Absturz in absolute Armut bewahren, natürlich ist es in Ordnung, dass er in seinem Steuersystem jene, die es sich leisten können, stärker zur Staatsfinanzierung heranzieht als jene, die ohnehin von der Hand in den Mund leben. Und selbstverständlich ist die Energiewende weg von den Fossilen ein Gebot der Stunde.
Aber wenn die Systeme so aufgestellt sind, dass sie Arbeitsaufnahme behindern und Mehrarbeit unlukrativ machen oder, wie im Fall Ökostrom, volkswirtschaftlich verdammt kontraproduktiv wirken, dann muss man sich doch überlegen, was da falsch läuft – und dann korrigierend eingreifen. Das ist es eigentlich, was wir von der Politik erwarten.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.
Josef Urschitz
josef.urschitz@diepresse.com
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